Die Toleranzzeit
Das geschilderte Elend muß man vor Augen haben, um den Jubel zu begreifen, den das Toleranzpatent Josefs II. auslöste. Schon bei der Thronbesteigung als Mitregent seiner Mutter hat er das Gelöbnis abgelegt: "Die Szenen der abscheulichen Intoleranz müssen ganz aus meinem Reiche verbannt bleiben. Der Fanatismus soll nur durch die Verachtung bekannt sein, die ich für ihn habe."
Am 13. 10. 1781 hat er das Versprechen eingelöst. „Überzeugt einerseits von der Schädlichkeit des Gewissenszwanges und andrerseits von dem Nutzen, der für die Religion und den Staat aus einer wahren christlichen Freiheit entspringt, soll den Evangelischen und nicht unierten Griechen Glaubensfreiheit gewährt werden ..."
Wie wahr das Wort des Kaisers vom Nutzen der Toleranz bis zum heutigen Tage ist, zeigt ein Blick in den Libanon. Solange es Toleranz gab zwischen den Religionen, Stämmen und Parteien, galt der Libanon als „die Schweiz des Nahen Ostens", ein Land der Wirtschaftsblüte, des Wohlstandes und kulturellen Lebens. Als aber die Toleranz dem Fanatismus weichen mußte, wurde der Libanon eine Hölle, die die Welt in Entsetzen versetzte. Es ist eine Warnung für die Welt: Toleranz ist kein gesicherter Zustand, sie muß geschützt und verteidigt werden.
b) Die Kunde vom Toleranzpatent fand im Salzkammergut zunächst keinen Glauben. Man meinte, es sei wieder eine Finte, die heimlichen Lutheraner auszuforschen, um sie dann auszutreiben. Bekannt ist die Geschichte von der Brigitta Wallner, die nach Kundmachung des Patentes in Gosau am Stefanitag 1781 den Bann gebrochen hat: „Von mir weiß jeder, daß i lutherisch bin; dreimal bin i deswegen eingsperrt worden, müaßts mi halt a vierts mal eisperrn, wenn's a Lug is."
Solche dramatischen Vorgänge hat es in Goisern nicht gegeben. Auch hier wurde am Stefanitag 1781 das Patent bekanntgegeben. Auch hierwar die Zurückhaltung groß. Immerhin meldeten sich einige Hundert beim Pfleger Oßner zur Augsburgischen Confession. Als ihnen nichts passierte, schwand das Mißtrauen und eine große Bekenntnisbewegung setzte ein. Von März 1782 bis Februar 1783 meldeten sich 1170 Personen zum evangelischen Glauben! in Hallstatt waren es 541, in der Gosau 1.054, das heißt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. In Ischl, das einst der geistliche Mittelpunkt war, meldeten sich nur 44 in Lauffen nur noch 2.
c) Um einen Damm aufzuerrichten gegen eine Massenbewegung wurde ab 1. 1. 1783 ein sechswöchentlicher Prohibitivunterricht eingerichtet. Keiner darf mehr den Bekenntniswechsel vollziehen, der sich nicht beim Dechant von Altmünster dem Unterricht unterzogen hat. Es handelt sich dabei vorwiegend um 5 Fragen:
1. Gibt es ein Fegefeuer?
2. Ist die Messe ein Opfer für Lebende und Tote?
3. Wieviel Sakramente gibt es?
4. Ist der Papst das Sprachrohr Gottes?
5. Soll man die Heiligen, besonders die seelige Jungfrau, verehren und anrufen?
Die Goiserer antworten nach der unveränderten A. B., die ihnen durch Schaitberger geläufig ist.
d) Trotz der Schwierigkeiten ist im Jahr 1785 die Seelenzahl der Gemeinde Goisern auf 1956 angewachsen. Sie wurde die größte Gemeinde Oberösterreichs. Die Viertelsleute Michael Schenner und Paul Neff nehmen den Aufbau der Gemeinde tatkräftig in die Hand. Es mußten Bethaus, Pfarrhaus und Schule gebaut, Pfarrer und Lehrer berufen werden. Sie baten den Pfleger Oßner, er möge ihnen eine Bittschrift aufsetzen. Er tat es widerwillig. Sie warteten vergeblich auf Antwort. Während sie monatelang warteten, war aber in Wien längst die Entscheidung gefallen. Weil das Salzkammergut kaiserlicher Besitz war, entschloß sich der Kaiser, das Patronat für die evangelische Gemeinde zu übernehmen. Die kaiserliche Instruktion vom 24. 1.1782 gestattet nicht nur den Bau des Bethauses, sondern übernimmt auch die Besoldung des Pastors. Aus den Rentamtgeldern der Herrschaft Wildenstein bekommt der Pfarrer ein Jahresgehalt von 300 Gulden. Goisern war die einzige Gemeinde Osterreichs, deren Pastor vom Kaiser besoldet wurde. Erst am 15. 5. 1782 wurde die Gemeinde von dieser Instruktion durch den Pfleger verständigt. Der Salzamtmann von Gmunden kam nach Goisern und fragte die Viertelsleute nach einem geeigneten Platz für Bet-, Pfarr- und Schulhaus. Auch Grund und Boden wurden vom Salinenaerar zur Verfügung gestellt. Am 31. 5. 1782 wurde der Bau begonnen und am 22. 9. 1782 beendet. Die kurze Bauzeit von 10 Wochen ging natürlich auf Kosten der Qualität.
e) So waren die äußeren Grundlagen für den Aufbau der Gemeinde geschaffen. Wie stand es aber mit dem inneren Aufbau? Es gehört zur Not der Toleranzzeit, daß die Evangelische Kirche damals keine innere Einheit bildete. Zwei Geistesströme standen sich gegenüber. Der Vernunftglaube verkündete: „Wage es, deinen Verstand zu gebrauchen.!! Erfand Eingang in die Kirche. Der kirchliche Rationalismus meinte: nur das soll der Mensch glauben, was er auch mit seiner Vernunft bejahen kann. Im Mittelpunkt der Verkündigung stand daher die Weisheit und Allmacht des Schöpfers, die Wichtigkeit der göttlichen Gebote und eines sittlichen Lebens, Vergeltung in einem Jenseits und Gehorsam gegenüber Staat und Obrigkeit.
Im Gegensatz dazu stand der Pietismus, der damals aus der Würtembergischen und Fränkischen Erweckung in unser Land kam und lehrte: „Das volle Heil kann der Mensch nur finden, wenn er seine Sündennot erkennt, im Blute Christi die Vergebung ergreift und im Heiligen Geist die Wiedergeburt erlebt."
Der Nürnberger Kaufmann Johann Tobias Kießling, ein Führer der Fränkischen Erweckungsbewegung, war schon viele Jahre vor dem Toleranzpatent mit Oberösterreich verbunden. Als Mitglied der Christenturnsgesellschaft sorgte er, daß pietistische Literatur ins Land kam und viele Pfarrstellen mit Pietisten besetzt wurden. Wenn Sie den Band „Im Zeichen der Toleranz", der voriges Jahr erschienen ist, durchlesen, werden Sie feststellen, daß es überall, wo Pietisten wirken, zu Erweckungen kam. Die Evangelischen begnügen sich nicht mit dem Sonntagsgottesdienst. Sie versammeln sich auch während der Woche zu Erbauungsstunden, um sich tiefer in das Verständnis der Heiligen Schrift einführen zu lassen und zu beten. Sie opfern nach Kräften für die Christentumsgesellschaft und die Mission.
Wir spüren etwas vom Evangeliumsjubel jener Zeit, wenn die Stallmagd Elisabeth Waldin die Verse schreibt:
Wenn die Morgensonne schimmert
in mein armes Schlafgemach
und der Morgenstern noch flimmert
auf mein niederes Hüttendach
und mein Aug' vom Schlaf noch trübe
sehnsuchtsvoll nach Osten blickt,
wird mein Herz von Jesu Liebe
wie von Morgentau erquickt.
Ja, mit Ihm find ich's im Stalle
helle wie in Tabors Glanz.
Seh' ich seine Wundenmale,
so fühl ich den Himmel ganz.
Darum bin ich immer fröhlich
und mein Tagewerk geht gut,
denn ich bin allhier schon selig,
weil mein Herz in Jesus ruht.
f) Es ist für diese erweckten Gemeinden eine Not, daß sowohl das Konsistorium wie der erste Superintendent Johann Christoph Thielisch aus Scharten auf seiten des Rationalismus stehen. Die Not wird akut, als 1783 das erste Gesangbuch erscheint, In dem jeder sogenannte Mystizismus vermieden wird. Das bedeutet, daß unter den 900 Liedern solche Lieder wie „Wie soll ich Dich empfangen" oder „Fröhlich soll mein Herze springen" und in einer späteren Auflage sogar „Eine feste Burg ist unser Gott" fehlen. Sie sind alle zu mystizistisch.
Die Gemeinden des Unterlandes schließen sich zusammen zum Abwehrkampf. Sie sagen: „Diese Lieder haben nichts zu tun mit dem Glauben, für den wir 180 Jahre lang gekämpft haben." Sie lassen ein eigenes Gesangbuch drucken, das Pfarrer Jakob Koch in Wallern zusammengestellt hat.
In Kärnten streiken die Gemeinden. Sie singen nicht und sitzen beim Gottesdienst stumm in ihren Bänken. Ein Kärntner Pfarrer sagte mir im Juli 1982, in seiner Gemeinde sei es bis heute so geblieben.
Von einem Gesangbuchkampf im Salzkammergut ist mir nichts bekannt.
g) Wie steht es mit dem ersten Pfarrer von Goisern, Christoph Friedrich Salomon Kästner, der von 1782 bis 1799 in der Gemeinde wirkte und am 28. Juli 1782 in dem noch unvollendeten Bethaus den ersten Gottesdienst hielt? Er läßt sich in keine der beiden Fronten einordnen und sucht eher Brücken zu schlagen. Er stammt aus Erlbach bei Neustadt a. d. Aisch (Franken), wo er 1755 als Sohn eines Wildmeisters geboren wurde. Seine Gymnasialausbildung empfing er an der Neustädter Fürstenschule, die völlig vom Pietismus der Halleschen Richtung geprägt war. Nach 6jähriger Gymnasialausbildung bezieht er 1773 die Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Die theologische Fakultät war ein Kind der Aufklärung. Der Professor, dem er sich am vertrauensvollsten anschloß, war Georg Friedrich Sailer. Er fühlte sich an das Lutherische Bekenntnis gebunden, meinte aber, es dürfe keinen Widerspruch geben zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Glauben und Wissen.
Wie ernst Kästner seine seelsorglichen Pflichten nahm, zeigt der Ausbruch einer Ruhrepidemie im Jahr 1797: 715 Personen lagen krank, in manchen Stuben lagen 4 bis 6 Kranke. Ohne Angst vor Ansteckung ging er Tag und Nacht in die Häuser, die Kranken zu trösten und zu versehen.
h) Das Toleranzpatent erlaubt nicht nur den Bau von Bethäusern, sondern auch von Schulen. Pfarrer und Gemeinde waren überzeugt von ihrer Wichtigkeit.
Von 1782 bis 1785 wurden in Goisern, St. Agathe, Gosau, Hallstatt und Obertraun Schulen gebaut, bzw. Schulstuben eingerichtet - gegen den heftigen Widerstand von Pflegeamt und Salzamt: „Diese Schulen sind überflüssig, die katholischen genügen.' Die Gemeinde ist überzeugt, sie genügen nicht. Hier lerne man nicht ordentlich lesen, weil dem Volke das Bibellesen unmöglich gemacht werden soll. Hier sind die Kinder auch dem Haß und dem Hohn auch der Andersgläubigen ausgesetzt - von Okumene weiß man damals nicht viel. Evangelische Schulen, meint man, sind für das geistige Leben der Jugend von höchster Bedeutung. Die Goiserer haben es sicher richtig gesehen. Eine alte Rutzenmooserin hat mir vor vielen Jahren gesagt: „Für mein Glaubensleben verdanke ich dem Lehrer mehr als dem Pfarrer. In den täglichen Andachten hat er uns das Wort Gottes so tief eingeprägt, daß es fürs ganze Leben reichte," Goisern und das Salzkammergut hat viele große Lehrergestalten aufzuweisen. Erinnert sei nur an Leopold Schenner, Lehrer in St. Agathe, der von der Behörde als „Muster in unermüdeter Gewissenhaftigkeit" gelobt worden ist und von dem Kästner urteilt, es sei ein wackerer Prediger an ihm verloren gegangen. Er sei ebenso fromm wie geschickt im Kathechisieren. Er verrichtete auch den Organistendienst.
Oder an Mathias Hinterer, Lehrer von Hallstatt, der von 1794 bis 1855, also 60 Jahre hindurch, den Lektorendienst in Hallstatt versah. Er hielt die Gottesdienste im Bethaus, weil die Gemeinde keinen Pfarrer anstellen konnte und der von Goisern nur einmal im Monat kommen konnte. Er hielt auch die Beerdigungen. Die Lehrer der Toleranzzeit waren nicht nur Pädagogen, sondern vielfach geistliche Väter der Gemeinden.
i) Kästner war in den ersten Jahren gewiß nicht das, was man einen Erweckungsprediger nennt. Aber seine religiöse Überzeugung und sein sittlicher Ernst übten eine große Anziehungskraft aus. Aus dem ganzen Salzkammergut, aus Gosau, Hallstatt, Obertraun und Ischl strömten die Menschen zu den öffentlichen Gottesdiensten herbei und ließen sich durch keine Ungunst der Witterung abhalten. Alle 14 Tage wird das Abendmahl gefeiert und da jedesmal bis zu 400 Kommunikanten kommen, dauert der Gottesdienst von 9 bis 12 Uhr. Die Regierung hat die Schlesische Agende vorgeschrieben. Der Unterschied zwischen dem katholischen und evangelischen Gottesdienst soll möglichst gering sein. Bei der Verwaltung der Sakramente trägt der Pastor Priesterrock und das weiße Chorhemd. In der Sakristei von Goisern ist das Chorhemd noch zu sehen.
Der Sonntag ist für den Pastor äußerst anstrengend. In einen Gottesdienst, der von 9 bis 12 Uhr dauert, wird dreimal das Wort Gottes verkündigt: vom Altar her die sogenannte „bodnige Predigt", auf der Kanzel die Auslegung des Evangeliums, vor der Feier des HI. Abendmahles die Beichtermahnung und am Nachmittag dann noch die Christenlehre für die Jugend: Es gibt kein Haus in der Gemeinde, das nicht am gottesdienstlichen Leben teilnimmt.
Der Pfarrer ist nicht nur Prediger, sondern auch Seelsorger. Die Hebung des sittlichen Lebens hat ihm sein Lehrer Sauer ans Herz gelegt. Er kann nicht schweigen zu den Volksschäden: Trunksucht, Spielsucht und Unzucht. Der Aufenthalt der Mädchen auf den Almen den ganzen Sommer hindurch erregt seinen Anstoß. Mit dem Lied „Auf der Alm da gibt's ka Sünd" ist er nicht einverstanden. Erweiß, echte Volkskirche begnügt sich nicht mit schönen Gottesdiensten, sie richtet ihren Blick und ihre Sorge auf den Zustand des Volkes.
k) Wir sagten, daß Pfarrer Kästner unter dem Einfluß seines Lehrers Georg Friedrich Sailer stand, eines sehr maßvollen Rationellsten. Durch die Freundschaft mit Johann Tobias Kießling in Nürnberg und seinen Amtsnachbar Julius Theodor Wehrenpfennig, der seit Oktober 1784 in der Gosau amtierte, kam Kästner immer mehr unter den Einfluß der Erwekkungsbewegung. Bei einer Beerdigung während der Ruhrepidemie 1797 predigte er über Johannes 3/30: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen." Dabei rief er aus: „Könnte ich durch meinen frühen Tod den Glauben, die echte Gottseligkeit und die gewisse Errettung aller Seelen meiner Schäflein begründen, mit Freuden wollte ich heute noch sterben - gern, gern will ich abnehmen, wenn nur ihr zunehmt in der wahren Weisheit, den zu erkennen, den zu lieben, der für euch gestorben, der sich selbst verzehrt hat, damit ihr wachsen könnt an Glaube, Liebe, Hoffnung, Seelenruhe, ja in Ewigkeit wachsen möchtet an Wonne und Herrlichkeit ..."
Das ist die Sprache des Pietismus jener Zeit. Von seinem Freund Kießling erbittet er pietistische Literatur: Spangenberg, Habermann, Rambach, dessen Lied „Ich bin getauft auf Deinen Namen" er in die Konfirmationsliturgie aufnimmt.
Als Superintendent Tielisch einen Kathechismus für die Diözese schaffen will, an dem weder Rationalisten noch Pietisten Anstoß nehmen sollen, beauftragt er Kästner mit der Ausarbeitung. Er denkt wohl: dieser Mann kennt den Wert des Rationalismus: Volksbildung, Volkserziehung - er kennt noch mehr die Werte des Pietismus: Herzenserneuerung durch lebendigen Glauben. Leider ist uns dieser Kathechismus nicht erhalten geblieben. Für die Gemeinde war es ein großer Schmerz, als Kästner nach 17jähriger Tätigkeit wieder in die Heimat zurückkehrte.